Der nächste Morgen fand unsere Helden am Ufer eines kleinen Sees, der unterhalb der steil aufragenden Wand einer Schlucht plätscherte. Das Flugzeug lag auf der Seite. Eine Tragfläche war gebrochen, der andere ragte seltsam nach oben. Der Rumpf lag halb unter Wasser.
Soja saß auf einem Stein am Wasser und hatte die schmächtigen Arme um ihre Knie gelegt. Der Navigator stand neben ihr.
„Nun, trauern Sie nicht“, sagte er. „Ihre kostbare Fracht ist nicht ins Schwarze Meer oder ins Mittelmeer gefallen, sondern in eine Gebirgspfütze. Und man wird sie natürlich leicht bergen können.“
„Aber wie?“, fragte das Mädchen leise.
„Man wird uns zu Hilfe kommen und uns herausholen.“
„Es war meine erste große Aufgabe und ich bin gescheitert. Und ich habe mir so gewünscht, sie zu bekommen.“
„Das war Ihr Traum … Ich habe auch einen Traum, und wissen Sie, welchen? Die Sonne einholen, sie sogar überholen, sie im Westen aufsteigen lassen. Erinnern Sie sich an das Gedicht: ‚Niemals wird die Sonne im Westen aufgehen …‘?“
„Was hat das mit dem Gedicht zu tun, Juri Sergejewitsch?“
„Jeder hat seinen eigenen Traum. Ich möchte etwas tun, was noch nie zuvor jemand getan hat. Mein Traum ist es, die Sonne in einem Flugzeug zu überrunden, um das Gestern einzuholen! Das geht so, aber das ist mehr Mathematik als Poesie. Wenn man auf dem Murmansker Breitengrad fliegt, beträgt der Weg um die Erde etwa 15.000 Kilometer. Die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde beträgt dort etwa 625 Kilometer pro Stunde. Und unser Flugzeug, mit dem wir geflogen sind, schafft tatsächlich 725 Kilometer pro Stunde. Das heißt, wenn wir von Werchojansk über Igarka nach Murmansk fliegen, können wir die Sonne eine ganze Stunde lang hinter uns lassen. Wenn wir von Werchojansk bei Sonnenuntergang abfliegen (natürlich an einem normalen, aber nicht an einem polaren Tag), kommen wir in Murmansk … eine Stunde vor Sonnenunter- gang an. Während des Fluges ginge die Sonne immer wieder im Westen auf.“
„Sie können also morgen abfliegen und heute ankommen?“, fragte das Mädchen lächelnd.
„Ganz genau!“, erwiderte der Navigator erfreut. „Sie haben es gut ausgedrückt. Wenn wir morgen um 0.30 Uhr in Werchojansk abgeflogen wären, bedeutete dies, dass wir heute um 23.30 Uhr in Murmansk ankommen würden.“
Der Navigator stellte vergnügt fest, dass Soja wieder fröhlicher wirkte. Nachdem er das Gespräch mit einigen Floskeln beendet hatte, ging er zu dem Piloten, der in der Nähe ruhte.
„Wie geht es, Pjotr Nikititsch? Tut es sehr weh?“
„Er ist so geduldig wie ein Skythe. Zu allen Zeiten verachteten Krieger den Schmerz“, antwortete der Archäologe. „Sie werden kein einziges Stöhnen von ihm hören, Juri Sergejewitsch.“
„Du solltest mich vor Gericht stellen, Juri“, knirschte der Pilot mit den Zähnen.
„Ach Petja. Wärst du Mitglied der Kommission, die hierher fliegt, würdest du es wahrscheinlich so beurteilen: Der Pilot hat seltenes Geschick bewiesen, er hat die Maschine perfekt auf dem Wasser gelandet, Menschen und Fracht gerettet. Das weißt du sehr gut, aber du redest immer wieder davon, wie du die Maschine zu Schrott geflogen hast.“
Der Pilot wandte sich ab.
„Ich habe den Unfall gebaut, es war meine Schuld“, sagte er.
„Und so geht das die ganze Zeit“, flusterte der Professor dem Navigator zu und sah ihm dabei in die Augen.
„Er war schon immer so“, sagte der Navigator leise. „Nachdem die Deutschen sein Flugzeug abgeschossen hatten, entkam er mit dem Fallschirm, aber auch damals betrachtete er sich als Versager.“
Plötzlich gab es in der Schlucht eine donnernde Explosion, deren Echo in den Felsen widerhallte.
Soja sprang auf und rannte zum Navigator und dem Professor.
„Was ist mit Ihnen, mein Täubchen? Angst?“, fragte der alte Mann zärtlich.
„Nein, was denken Sie … Ganz und gar nicht!“, rief das Mädchen fröhlich. „Das war eine Explosion.“
„Ja … Ja …“, sagte der Navigator, der immer noch nicht verstand.
„Nun, so etwas brauche ich ja auch!“, schrie das Mädchen und lief, ohne eine weitere Erklärung in die Richtung, aus der die Explosion zu hören war.
Als sie um einen Felsvorsprung bog, hielt sie inne. Direkt vor ihr hob sich ein Granitfelsen wie ein riesiges schwarzes Segel in den Himmel und versperrte beinahe den Ausgang der Schlucht. Am Fuß des Felsblocks winkten zwei Leute aufgeregt mit den Händen und riefen Soja etwas zu.
Sie blieb stehen. Eine Sekunde später gab es eine weitere Explosion. Rauch stieg in einem schwarzroten Wirbelsturm auf, und das Grollen rollte über die Felsen.
Als es nachließ, überlegte Soja, dass sie sich nun den Fremden nähern könne. Einer von ihnen kam ihr entgegen. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit gebräuntem Gesicht und trug ein kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln.
„Ich hätte nie erwartet, hier eine Frau zu sehen. Ich dachte, man könne hier nur mit einem Seil herunterkommen, wie wir es heute Morgen gemacht haben“, sagte er und reichte Soja die Hand. „Darf ich mich vorstellen: Alexei Makarow, Geologe.“
„Was machen Sie hier?“
„Die Erkundung unterirdischer Ressourcen. Und Sie?“
„Notlandung eines Flugzeugs. Ich brauche etwas Sprengstoff.“
„Wozu? Wollen Sie eine Startrampe bauen?“
„Nein“, lachelte Soja, „ich brauche … Die Ladung ist aus dem Flugzeug gefallen …“
„Ich verstehe nicht“, sagte Alexej.
„Und wozu benutzen Sie Sprengstoff? Was sprengen Sie hier?“, lenkte Soja das Gespräch auf ein anderes Thema.
„Ich kann das gerne und sicher genauer erklären, als Sie es getan haben“, grinste der Geologe. „Kommen Sie mit zu meinem Freund, ich werde Sie ihm vorstellen. Sein Name ist Herakleios Simonidze. Er ist ein netter Bursche. Wir führen hier gemeinsam seismische Erkundungen durch. Lassen Sie mich Ihnen erklären, wie das geht. Wir verursachen durch eine Explosion Schwingungen in der Erdkruste. Die Schwingungen breiten sich in den verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten aus und werden an den Grenzflächen zwischen den Schichten reflektiert. Anhand der Geschwindigkeit, mit der die Wellen zurückgeworfen werden, können wir fest- stellen, welche Gesteinsarten unter uns liegen und wie tief sie sind. Schauen Sie hier“, Alexej zeigte Soja einen Draht, der aus dem Boden kam. „Hier ist ein Seismograph vergraben, ein präzises Gerät, das Bodenbewegungen erfasst und in elektrischen Strom umwandelt.“
Soja nickte unsicher.
„Und hier ist Herakleios selbst. Hör mal, Herakleios! Dieses Mädchen ist wegen Sprengstoff zu uns gekommen.“
Ein großer blonder Mann kniete am Boden und fummelte an einem komplizierten, augenscheinlich elektrischen Gerät herum. Er erhob sich, schüttelte vorsichtig seine Hose ab und lüftete seine schneeweiße Mütze.
„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er. „Sind Sie auch Erkunder vom Komsomol? Warum kenne ich Sie nicht?“
„Nein, nein, ich bin keine Geologin. Ich bin Ichthyologin, eine Fischspezialistin.“
„Ichthyologin?“, sagte Herakleios überrascht. „Und wozu brauchen Sie Sprengstoff?“
„Ihr Flugzeug konnte nicht landen, wahrscheinlich blieb die Fracht in einer Felsspalte stecken. Sie wollen also den Felsen in die Luft jagen“, erklärte Alexej.
Soja lachte:
„Das ist ein Irrtum!“
Ein unerwarteter Windstoß packte das Mädchen und wirbelte sie abrupt herum.
„Wenn ein Ichthyologe nach Sprengstoff fragt, bedeutet das, dass er Fische töten will“, sagte Herakleios mit sehr ernstem Gesicht.
„Zum Fischen gibt es nur eines in dieser Schlucht nicht genug – Wasser“, sagte Alexej.
Soja wollte etwas zu ihm sagen, doch plötzlich bemerkte sie Wasser unter ihren Füßen.
„Oh, Wasser!“ Unwillkürlich kreischte sie auf.
„In der Tat!“, staunte Alexej.
„Wir müssen nach oben gehen, das Wasser steigt aus den Felsspalten“, sagte Herakleios besorgt.
Als sie sich eine höher gelegene Stelle erreichten, sahen sie, dass das Wasser aus allen Spalten heraustrat und sich schnell über den trockenen, steinigen Boden der Schlucht ergoss.
„Nun, Seemann Herakleios“, sagte Alexej, „das ist ein Notfall. Retten Sie unsere Seismographen.“
„Warum Seemann?“, fragte Soja.
„So nenne ich ihn. Er traumt von einer Trasse mit maritimer Bedeutung. Er mochte in seiner Heimatstadt Tbilissi einen Seehafen errichten.
„Sie sind aus Tbilissi?“, wandte sich Soja an Herakleios.
„Natürlich, waren Sie schon einmal in Tbilissi?“, wurde dieser sofort hellhörig. „Was für eine schöne Stadt! Und wie das Leben darin brodelt! Sie könnten damit Granit schmelzen! Und wenn eine solche Stadt einen Seehafen hätte … Glauben Sie mir bitte, dass es eine solche Stadt an keiner Küste der Meere gibt. Aber schauen Sie mal, das Wasser steigt, klettern Sie auf den Felsen, sonst werden Ihre Schuhe nass. Sie sind brandneu, nicht wahr?“
„Ja, ich habe sie kurzlich in Algier gekauft.“
„In Algier?“ Makarow war überrascht.
Aber Soja war nicht an einem Gesprach interessiert. Das Wasser stieg schnell, man musste sich retten. Alexej kletterte auf einen hohen Felsen und reichte ihr die Hand.
„Sie sind sehr leicht“, sagte er, als sie neben ihm stand. Der Wind wurde immer starker und starker. „Nun ja … Wir werden hier warten.“
Das Wasser hatte inzwischen den Grund der Schlucht gefüllt. Die Steine, die daraus hervortraten, schienen nun zahllose Inseln zu sein. Doch schon bald begannen auch sie zu verschwinden.