Die schmale Schlucht grenzte an einen Granitfelsen. Seine senkrechten Wände waren so hoch, dass es vor ihm dunkel war, als würde kein Tageslicht mehr eindringen. Soja schaute sich ein letztes Mal zum See und wandte sich dann, ohne einen Schritt zu tun, an Alexej:
„„Der See der Bergtränen“. Warum heißt er so?“
„Es gibt eine Legende, die dieses Spiel der Natur auf ihre eigene Weise erklärt. Man sagt, dass vor etwa hundert Jahren ein schönes Mädchen aus den Bergen auf einem Pferd in dieser Schlucht ritt, verfolgt von einem Türken. Der Türke hatte den Eltern des Mädchens ein hohes Brautgeld gezahlt und war nun hinter der Flüchtigen her wie hinter seinem entsprungenen Schatz. Das Pferd der Rei- terin wurde langsam müde, und sie erkannte, dass sie ihrem Verfol- ger nicht mehr entkommen konnte. Und dann bat sie die Berge und den Wind um ihren Schutz. Der Wind erhörte sie und blies mit noch nie dagewesener Kraft.“
Wie jetzt, als wir hierher gelaufen sind?
„Ja, ja. Er peitschte die Pferde, riss ihnen den Schaum vom Maul und trieb dem schönen Mädchen die Tränen aus den Wimpern. Diese Tränen fielen auf die harten Steine.“
Soja drehte sich unwillkürlich um. In der Ferne, am Eingang der Kluft, war ein schmaler heller Streifen zu erkennen.
„Was dann?“
„Die Steine zitterten, sie konnten die flehenden Tränen nicht er- tragen, sie weinten selbst, und die Tränen bildeten einen tiefen salzigen See. Das Pferd des Türken wich zur Seite, scheute und blieb zwischen den Steinen vor dem See hängen. Der Reiter erkannte, dass er die Flüchtige nicht einholen konnte und verfluchte die Berge und den Wind. Da rückten die Felsen wütend und unversöhnlich an ihn heran … und zerquetschten den Beleidiger.“
„Das also ist die Erklärung der Dichter für das Auftauchen des Sees, aber was sagen die Geologen?“, fragte Soja und verlangsamte ihre Schritte.
„Die Geologen?“, lachte Alexej. „Wir Geologen werden uns eine weniger poetische Hypothese einfallen lassen müssen.“
Plötzlich blieb Soja stehen:
„Alexej, merken Sie nicht, dass die Wände immer näher herankommen?“
„Nun, jetzt aber genug! Für einen Tag haben wir genug von Überschwemmungen und Haien. Wie leicht Sie sich täuschen lassen! Es ist nur so, dass die Schlucht hier schmaler geworden ist.“
„Oh, warten Sie … Sie haben mir von allen möglichen Gefahren erzählt, und jetzt … Bitte nehmen Sie Ihren Stock …“
Alexej warf ihr einen herablassenden Blick zu und hielt den Stock so, dass er mit beiden Enden an den Wänden der Schlucht ruhte. Einige Sekunden lang beobachteten die jungen Leute schweigend den Stab.
Der Wind rauschte durch den engen Steinkorridor wie ein Schornstein. Es heulte, kreischte, pfiff und donnerte über ihnen.
„Was ist das für eine Geschichte!“, schimpfte der Geologe. „Der Stock hat biegt sich!“
„Wie geht das? Wie?“, flüsterte Soja.
Was sie sahen, wirkte wie ein erschreckendes Trugbild. Aber es gab keinen Zweifel: Der Stock hatte sich gekrümmt. Es schien so, dass sich die Wände der Schlucht wie riesige steinerne Kiefer zusammenzogen.“
„Das ist kein Hai, da hilft auch kein Stock“, scherzte der Geologe, aber seine Stimme klang nicht fröhlich. Soja sah ihn erschrocken an. Die schmalen Lichtstreifen vor und hinter ihnen waren unendlich weit weg und die kalten Steinwände … kamen immer näher …
Eine solche Angst und Hilflosigkeit, wie sie das Mädchen nun erfasst hatte, konnte nur ein Traum sein. Sie wünschte sich, sie könne erwachen, zur Besinnung kommen und den Kopf unter dem Kissen verstecken. Von oben rollten lose Kieselsteine herab. Sie prallten von der einen Wand der Schlucht ab und trafen auf die andere …
„Ein Erdbeben …“, flüsterte Soja.
Der Geologe wischte sich mit der Handfläche über die blasse feuchte Stirn und packte Soja am Arm.
„Laufen Sie!“, rief er heiser und stieß Soja vorwärts..
18 Soja, deren Beine gerade noch vor Müdigkeit gezittert hatten, wusste nicht, woher sie ihre Kraft nahm. Sie sprang von Stein zu Stein, stützte sich an die kalten, glitschigen Wände, um das Gleich- gewicht zu halten, sprang erneut und rannte wieder, schnappte nach Luft und kämpfte gegen den Drang, zu schreien … Sie war Alexej weit voraus. Der Geologe hielt sich zwar absichtlich zurück, um dem Mädchen nicht zu zeigen, dass auch ihn die Angst gepackt hatte … Er rannte mit knirschenden Zähnen und stieß sich mit den Händen von einer Wand des sich verengenden Schlucht zur anderen ab.
Der helle Fleck vor ihnen war noch weit entfernt. Die Schlucht wurde so eng, dass Soja stoppen musste. Sie drückte sich mit dem Rücken an eine der Wände und schaute sich hilflos mit vor Schreck geweiteten Augen um. Die gegenüberliegende Wand kam immer näher.
Alexej lief außer Atem auf sie zu.
„Warum sind Sie stehengeblieben?“, rief er.
Soja konnte nicht antworten. Sie starrte nach vorne, auf den fernen hellen Punkt des Ausgangs … Es ginge nur weiter, wenn sie sich zwischen den Felsen hindurchquetschen würde.
Der Geologe lehnte ebenfalls an der Wand und schaute hilflos nach oben, als ob von dort Hilfe kommen könnte.
Auch Soja sah hinauf.
„Warum ist es Nacht? War nicht soeben noch Tag? Habe ich schon den Verstand verloren …? Sagen Sie mir, bitte …“
In der Tat glitzerten die Sterne am plötzlich verdunkelten Himmel.
Doch der Geologe schaute nicht zu den Sternen. Er sah etwas anderes.
„Eine Kerbe … Sehen Sie? Schnell … Kommen Sie, ich helfe Ihnen!“
Soja stützte sich gegen die beiden Wände des schmalen Spalts, zu dem die Schlucht geworden war, gelangte zu dem Loch und streckte dem Geologen ihre Hand entgegen. Er hatte sich bereits zwischen den eng beieinander liegenden Felsen durchquetschen müssen. Einer Sekunde später saß das Mädchen neben ihm in einer niedrigen, unbequemen Mulde, in der sie nicht einmal aufrecht stehen konnten.
Bald schlossen sich die Felsen um sie und es gab keinen Ausweg mehr aus dem engen Unterstand. Durch einen Spalt, in den eine Hand kaum eindringen konnte, wehte von oben Luft hinein.
„Wie ein Sarkophag“, flüsterte das Mädchen.
Der Geologe antwortete nicht, dann sagte er plötzlich:
„Aus jedem Brunnen heraus kann man die Sterne sehen. Abgeschirmt vom Sonnenlicht.“
Soja seufzte. Stille trat ein. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft.
„Was wird jetzt geschehen?“, fragte das Mädchen und versuchte, das Zittern zu überwinden, das sie schüttelte.
„Um zu wissen, was jetzt passiert, muss man wissen, was passiert ist“, sagte Alexej mit mürrischem Tonfall.
„Seien Sie nicht so … oder ich werde verrückt.
„Nein … bin ich nicht … das ist schon in Ordnung“, sagte der Geologe.
Sie waren wieder still. Alexej dachte intensiv nach und verfluchte seine Hilflosigkeit. Aber was konnte dieser starke, große Mann tun, wenn er seinen muskulösen Körper wie einen Zollstock falten musste, um irgendwie selbst in die Höhle zu passen und dem Mädchen mehr Platz zu geben!